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oder: Die Wahrheit über die Patientenverfügung

Petra Dahlemann: Was bedeutet es, in Deutschland dement zu sein?

Manuela Deininger: Für mich ist das unbegreiflich, wie über einen Menschen mit der Diagnose Demenz bestimmt werden kann. Nur weil er an einer Hirnleistungsstörung leidet, die im Moment der Diagnose in unterschiedlichen Stadien ist. Menschen mit Demenz sind ganz unterschiedlich noch in der Lage, Entscheidungen für sich zu treffen. Ich traue ihnen oft viel mehr zu als ihnen der Gesetzgeber erlaubt.

Zum Beispiel?

Ist die Diagnose einmal da, heißt es automatisch: selbstgefährdend. Fremdgefährdend. Weglaufgefährdet. Vieles wird Kranken von außen übergestülpt: „Du musst zwischen sieben und acht aufstehen.“ „Und dann musst du dich waschen. Und dir was Ordentliches anziehen.“ Es gibt Normen und Strukturen, in denen sich ein Demenzkranker bewegen muss. Viele Kranke wollen mal hinausgehen und finden nicht zurück. „Selbstgefährdend“. Aber das ist nicht so! Jemand glaubt vielleicht, seine Mutter lebt noch, und geht los, um sie zu suchen. Wenn ich ihn daran hindere zu gehen oder ihm die Tür zuhalte, das versteht er nicht. Er ist doch jetzt 80 Jahre lang rausgegangen. Besser ist, mit ihm zu gehen und ihn selbst die Erfahrung machen zu lassen: Ich kenne mich ja draußen gar nicht mehr aus. Wenn ihnen das ein paar Mal passiert ist, gehen viele gar nicht mehr raus oder wenigstens nicht allein. Sie haben ein ungutes Gefühl. Wenn aber jemand nicht raus darf, dann versucht er es immer wieder. Wenn ich die Tür offenlasse und versuche einfach, hinter ihm herzugehen und lasse ich ihn vier oder fünf Mal diese Erfahrung machen, dann ist es einfacher ihm beizubringen, mit jemand anderem rauszugehen. Viele können das durchaus abspeichern. Aber man traut es ihnen gar nicht zu.

Wir haben jetzt den Fall einer dementen Dame, die allein zu Hause lebte, und da kam immer der Pflegedienst. Sie ist eine Langschläferin. Wir haben Pflegenotstand. Man ist froh, einen Pflegedienst zu finden, der nach Hause kommt. Und er kommt, wenn es gerade in seine Tour hineinpasst. Versetze dich in ihre Lage! Der Pflegedienst klingelt dich also aus dem Bett. Du bist total müde und genervt, willst nicht aufstehen. Und die Schwester sagt: „Sie müssen jetzt aber.“ Sie zerrt dich aus dem Bett und unter die Dusche. Du sagst: „Ich bin müde, ich will schlafen!“ Das geht aber nicht. Wenn bei mir um halb sieben jemand klingeln würde und zu mir sagt, du musst jetzt aufstehen und ich wasch dich und dusch dich jetzt, und ich entgegne, ich will das nicht – ich könnte ihn anzeigen, so wie er mich bedroht! Wenn du aber die Diagnose Demenz hast, dann ist das in Ordnung. Und wenn du dann als Demenzkranker anfängst zu schreien oder um dich schlägst, weil du diese penetrante Person von dir weghalten willst, dann bist du „aggressiv“ und das ist ein Fall fürs Ordnungsamt und die Polizei. Und die weist dich in die Psychiatrie ein. Dort sagst du, es würde dir hier nicht gefallen, du würdest jetzt wieder heimwollen. Läufst dreimal zur Tür. Dann bist du auch noch weglaufgefährdet. Dann wirst du in die geschlossene Gerontopsychiatrie eingewiesen und mit Medikamenten niedergedopt und unter Zwang festgehalten.

Wäre es nicht besser, so eine Dame nach unserem sanftMUTIG!-Konzept wohlwollend und gewährend zu versorgen? Wir lassen sie erst mal in Ruhe und versuchen den Moment abzuwarten, wo sie sich versorgen lässt. Das funktioniert im normalen Pflegesystem in Deutschland aber nicht. Du darfst als Dementer deinen Willen schon äußern. Aber es hört halt keiner zu.

Kann ich denn verstehen, was ein Demenzkranker braucht und möchte?

Demenzkranke sind grundehrlich. Komplett. Sie sagen dir ganz genau, was sie denken und wollen. Und was nicht. Ich habe mir das mal zur Aufgabe gemacht, 24 Stunden alles genau so zu machen, wie die Demenzkranken das wollen. Dann hast du mit ihnen einen wundervollen Tag. Sie sind happy und lustig. Und du schaffst es in den 24 Stunden trotzdem, sie irgendwann zu versorgen. Und wir schaffen es auch, dass sie etwas essen oder trinken. Aber du darfst sie nicht zu bestimmten Zeiten zu etwas zwingen.

Wir müssen in die Welt der Demenzkranken rein. Und wenn wir dort sind, sieht alles gar nicht mehr so seltsam aus. Du merkst, sie sind noch ganz normal, so wie sie früher auch waren, nur passt es nicht in unseren Pflegerhythmus. Wir hatten neulich in der Beratung den Fall, da wollte eine Demenzkranke um vier aufstehen, um Blumen zu kaufen, denn an dem Tag sollte ihr Sohn kommen – das stimmt wirklich – und sie wollten zusammen zu einem Geburtstag. Nun ist in einem Heim in der Nacht für hundert Bewohner ein Pfleger da, jetzt kann nachts mit der Frau keiner Blumen kaufen gehen. Was macht man? Man schimpft, kämpft und argumentiert. Nein, das geht jetzt nicht. Und jetzt ist Nacht! Am besten wäre es, es gäbe einen Rufdienst mit drei Ehrenamtlichen, die man anruft und eine kommt, fährt mit der Frau irgendwohin, wo es Blumen gibt, und die Frau kommt zurück und ist total happy. Das wäre alles in einer Stunde erledigt, die Frau wäre müde, würde noch ein bisschen schlafen, bis der Sohn kommt. Zu machen, was Demente wollen, ist viel, viel einfacher. Es passt nur nicht in die Strukturen.

Und wie ist das in unseren Wohngemeinschaften?

Wenn die Diagnose Demenz gestellt wird und der Erkrankte zieht in eine WG wie unsere, dann ist nicht der Demenzerkrankte entscheidungsbefugt, sondern das sogenannte „Gremium der Selbstbestimmung“, in dem die Angehörigen der Erkrankten sitzen oder gesetzliche Betreuer. Die Idee ist, dass dieses Gremium für die Selbstbestimmung im Sinne der Bewohner sorgt und nicht etwa der Pflegedienst entscheidet. Die Heimaufsicht und der MDK überprüfen, ob das Gremium ordentlich funktioniert. Aber niemand fragt die Bewohner. Es gibt Bewohner, die ganz klar formulieren: „Ich möchte einen Ausflug“ oder nicht. Das kann er eigentlich aber nicht entscheiden. Wenn der Angehörige findet, er soll keinen machen, dann geht er nicht mit.

Jeder Angehörige sieht seinen Kranken unter verschiedenen Aspekten. Erwachsene Kinder sehen ihre Eltern oft so, wie sie früher mal waren. Die haben sich aber verändert. Sachen, die ihnen wichtig waren, sind ihnen jetzt nicht mehr wichtig. Wir als Pflegedienst wissen das,

denn wir lernen sie kennen, wie sie jetzt sind, wenn sie einziehen. Wir hatten mal den Fall, dass eine Dame sich bei uns mit der Schere die Haare abgeschnitten hat. Die Tochter hat fast der Schlag getroffen. Sie wollte doch immer lange Haare! Wir haben dann nach einer Weile einen Friseur kommen lassen und der hat die Dame gefragt: Schneiden oder nicht? Ja, bitte schneiden. Und dann hat sie sich im Spiegel angeschaut und geseufzt „Schön!“ Schwer zu ertragen für eine Tochter, die ihre Mutter nur mit langen Haaren kennt. Ich kenne die Frau nicht, wie sie früher war. Ich höre jetzt ihre Bedürfnisse und versuche sie zu erfüllen.

Wenn ich eine Dame sehe, die immer vom Teller ihres Nachbarn das Fleisch und die Wurst stiehlt und die Kinder erzählen mir, die Dame war Zeit ihres Lebens Vegetarier, ich möchte nicht, dass sie Fleisch isst – dann haben wir das Problem, dass es sich gar nicht mehr um die Demenzkranke dreht. Die Angehörigen entscheiden immer so, wie sie meinen, dass es für die Erkrankten am besten ist. Und das ist oft so, wie sie es von früher kennen. Ob sich der Demente damit heute noch wohl fühlt, wird oft gar nicht gefragt.

Die Erkrankte will vielleicht gar nicht so gesund leben in den letzten zwei Jahren, die ihr noch bleiben, wie ein Angehöriger oder Betreuer, der vielleicht noch 40 Jahre zu leben hat. Man will es für denjenigen, für den man verantwort

lich ist, gut machen. Und geht dabei von den eigenen Werten aus.

Hat das auch Konsequenzen für Vollmachten und Patientenverfügung?

Ja, sicher! Die meisten füllen das Formular arglos aus und setzen oft ihre Partner als Bevollmächtigte ein. Aber nur, weil sie mit jemandem zusammenleben und ihn mögen. Aber wird er das, was mich ausmacht, umsetzen? In dieser Hinsicht habe ich schon die schlimmsten Dinge erlebt. Was hält dieser Partner für gefährlich und was nicht?

Wir hatten den Fall, dass ein Bewohner eine schriftlich verfasste Patientenverfügung hatte, genauestens notiert: was er möchte und was nicht. Es war eindeutig hinterlegt, dass er keine lebensverlängernden Maßnahmen möchte, keine künstliche Ernährung oder Flüssigkeitszufuhr. Und er hatte seinen Partner als Bevollmächtigten eingesetzt. Jemanden, der für sich immer wählen würde, gerettet zu werden, in jedes Krankenhaus kommen möchte – die beiden waren völlig unterschiedlich in ihrer Gesundheitsauffassung. Kann der Bevollmächtigte trotzdem den Willen des Erkrankten erfüllen? Da müsste er ja gegen seine eigenen Prinzipien handeln. Ich habe erlebt, dass in so einem Fall sehr wohl gegen eine Patientenverfügung verstoßen wird. Der Angehörige muss nur den passenden Arzt finden. Der sagt dann: Das ist eine akute Erkrankung, da dürfen wir künstlich ernähren und Flüssigkeit zuführen.

Ist das Rechtslage? Der Bevollmächtigte „sticht“ die Patientenverfügung?

Es entscheidet immer der Bevollmächtigte, wie die Patientenverfügung verstanden und gelesen wird. In eine Patientenverfügung kann man sehr viel hineininterpretieren, immer. Wenn deine Krankheit unumkehrbar ist, fortschreitend verläuft und du dich im Sterbeprozess befindest – wer kann denn von außen letztendlich sagen, das ist jetzt der Sterbeprozess?

Das ist strittig?

Klar. Es gibt immer Leute, die sich wieder erholen. Und andere, die sich nicht erholen. Niemand von uns weiß, wann er sterben wird. Ein Sterbeprozess kann sich über Monate hinziehen. In den letzten zwei Tagen kann ich es von außen vielleicht sicher erkennen. Als außenstehende Pflegekraft, kann ich manchmal sagen: Der Mensch geht jetzt langsam in den Sterbeprozess über. Und alles, was wir jetzt von außen noch zuführen, wäre Quälerei. Der Angehörige aber, der emotional sehr verbunden ist und den Erkrankten liebt und noch nicht loslassen kann, sieht das oft anders. Und wenn man dann den richtigen Arzt findet, der sagt, naja, der hat gerade einen Infekt, dem geben wir ein Antibiotikum, den retten wir?

Am Anfang gelingt dieser Aufschub ja auch oft noch. Wenn ein Demenzkranker über das Verschlucken eine Lungenentzündung bekommt, eine sogenannte Aspirationspneumonie, dann kannst du ihm die ersten Male schon ein Antibiotikum geben und es verbessert sich noch mal leicht. Aber die Demenz ist soweit fortgeschritten, dass er sich trotzdem jedes Mal beim Essen oder Trinken verschluckt und die Problematik beginnt jedes Mal wieder von vorne. Wenn dann diese Lungenentzündung chronisch wird, brauchst du ihm auch keine Flüssigkeit künstlich zuführen. Das Antibiotikum muss man ihm oral zuführen oder über einen Tropf – das wird aber das Grundproblem, dass er nicht mehr essen und trinken kann, ohne sich zu verschlucken, nicht lösen. Wenn er eine Patientenverfügung gemacht hat und darin steht: Ich will mich nicht jeden Tag an meinem Essen und Trinken verschlucken und halb daran ersticken… Dann möchte ich vielleicht lieber die Lippen zusammenpressen und mit dem Kopf schütteln und sagen: Ich will nicht mehr.

Ich kenne die Patienten nur in ihrer Pflegesituation und begleite sie in ihrer schlimmsten Endzeit. Und ich spüre immer, was derjenige will. Der Demente, egal in welchem Stadium er ist, wenn ich ihn aufmerksam beobachte, gibt mir immer zu verstehen, was er möchte. Durch Blicke oder Geräusche, manche machen bewusst den Mund zu und

pressen die Lippen aufeinander oder sagen manchmal klar: Nein! Oder es haut einem jemand das Schüsselchen mit Essen aus der Hand. Ich begreife Angehörige oder Bevollmächtigte manchmal nicht, die das nicht sehen. Viele, weil sie es nicht sehen wollen. Jetzt kommt der Moment, für den sie bevollmächtigt wurde, nämlich zu sagen: Er darf jetzt sterben. Dieser Sprung ist sehr schwer. Viele beschäftigen sich gedanklich vorher damit, aber wenn der Moment da ist, versuchen sie ihn nach hinten zu verdrängen. „Er weiß doch nicht, dass er stirbt, wenn er jetzt nimmer isst…“

Glaubst du das?

Aber nein. Ich glaube, dass schwerkranke oder demenzkranke Menschen genau wissen, wann ihr Ende da ist und dass sie uns das klar kommunizieren. Wir geben ihm zu essen, wir bieten etwas an, wir setzen ihm ein Glas mit Getränk an die Lippen. Wenn er das zu sich nimmt und nehmen kann – alles in Ordnung. Wenn er es nicht kann und mir dann noch anzeigt, dass er auch nicht will – warum darf ich ihn nicht in Ruhe lassen.

Hast du Verbesserungsvorschläge?

Wir brauchen ein komplettes Umdenken in unserer Gesellschaft, was den Tod betrifft. Ich mag es natürlich, dass die Medizin so weit ist wie sie ist, aber bitte nicht in jeder Situation. Unsere Gesellschaft ist wenig flexibel, finde ich. Für alles gibt es eine Schublade. Ärzte entscheiden oft so, weil sie den Weg des geringsten Widerstands gehen. Sie haben viel Arbeit und Verantwortung und lernen: Leben retten. Leben retten. Ich wünsche mir oft, dass sie fragen würden: „Wie war denn der Verlauf des Patienten in den letzten zwei Jahren? Erzählen Sie mal.“ Und dann könnte man gemeinsam in einer Runde besprechen, wie sieht das jeder. Lasst uns doch mal die Situation betrachten.

Wie verstehst du die Pflege bei „Mitten im Leben e.V.“?

Wir im RosenGarten und in den WGs versuchen, die Dementen so sein zu lassen wie sie sind. Und wir schauen,

dass wir personell so aufgestellt sind, dass es geht. Wir haben nie das Problem, dass Demenzkranke über einen längeren Zeitraum hinweg seltsam sind. Wenn du ihnen ihre Freiheit lässt, lernen sie dich so kennen und speichern ab: Aha, gute Person, hat sich noch nie mit mir gezankt, gibt mir ein gutes Gefühl. Das schafft Vertrauen und ich kann dann auch mal sagen: Wir gehen gleich, geben Sie mir noch fünf Minuten… Das musst du dann aber auch machen! Je mehr sie merken, dass sie bei dir alles machen können, was sie wollen, umso friedfertiger sind sie. Wenn sie nicht dauernd auf Widerstände stoßen. Sie haben das Gefühl, es ist alles in Ordnung. Wenn du aber einem Demenzkranken dauernd über den Mund fährst, ihm seine Rechte absprichst, dann nimmt er sich in acht. Er ist dann verängstigt und traumatisiert und entwickelt in seinen Ängsten immer zwanghafter Dinge, die er unbedingt durchsetzen will, weil er das bestimmt gleich nicht mehr darf.

Manchmal sehe ich, mit welcher Inbrunst und Lust ein Demenzkranker in ein Stück Torte hineinbeißt und schwärmt. Mir ist wichtig, dass der erkrankte Mensch heute einen schönen Tag hatte und glücklich ist. Dieser Mensch hat die Diagnose einer Krankheit, die ihn umbringen wird. Ganz sicher. Irgendwann. Lieber glücklich gestorben als unglücklich ewig dahingesiecht. Freiheit vor Sicherheit. Das ist unser Prinzip bei sanftMutig!

Vielen Dank für das Gespräch, Manuela.