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Foto: Anne Kaiser Photography

Alle Studien zum Thema Demenz zeigen: Es sind nicht nur pflegerische Aspekte, die Familien zermürben. Rollenmuster drehen sich um, die Tochter sorgt für die Mutter, aus gleichberechtigten Ehepartnern wird ein Abhängigkeitsverhältnis. Die zunehmende Belastung ist oft ein schleichender Prozess, von inneren und äußeren Konflikten begleitet. Pflegende Angehörige brauchen rechtzeitig Entlastung, natürlich vor allem durch Pausen und freie Zeiten, in denen ihr erkrankter Liebster gut versorgt ist, aber manchmal reicht das nicht. Erschöpfung, das Dauergefühl der Überforderung oder Lösungsstrategien, die die Pflegesituation nicht entspannen können, führen vielleicht zu einer seelischen Verfassung, in der auch der pflegende Angehörige für sich selbst Unterstützung braucht.

Seit einigen Jahren gibt es eine Institution in München, die Rat und Hilfe bietet, DesideriaCare. Wir sind dankbar für die Kooperation mit dieser wunderbaren Einrichtung, planten zusammen das große DemenzMeet nach Schweizer Vorbild und haben Referentinnen von DesideriaCare auch schon in unsere Angehörigentreffen oder als Kursleiterinnen zu uns geholt. Désirée von Bohlen und Halbach und Anja Kälin haben den Verein zusammen gegründet und beantworteten gerne unsere Fragen.

Mit welchen Fragen kommen pflegende Angehörige typischerweise in eure Beratung?

Anja: In Pflegesituationen fühlen sich Menschen oft ohnmächtig. Die Handlungsoptionen werden immer weniger. Diese zunehmende Enge bemerkt man lange nicht. Und eventuell sind auch sich hochschaukelnde Konflikte da. Man ist zerstritten mit anderen Angehörigen oder einsam. Oder Angehörige fühlen sich in Situationen mit dem Demenzkranken überfordert. Dieser hat kaum die Möglichkeit, schwierige Situationen zu erkennen. Ich muss als Angehöriger Lösungen ersinnen. Viele haben aber nicht mehr die Kraft, um etwas spielerisch auszuprobieren oder sich Hilfe zu holen. Sie haben nicht den Mut, über ihre Situation zu reden und reagieren mit Rückzug. Das sind eventuell ungeeignete Bewältigungsstrategien.

Manche sagen: „Ich brauche nicht noch tausend Ratschläge von meinen Freunden, die wissen eh immer alles besser. Keiner kann sich vorstellen, womit ich täglich zu tun habe. Und dann muss ich mir noch anhören: Ist doch nicht so schlimm mit deinem Mann, wenn ich mit ihm rede, ist er ganz okay“.

Dann stellt sich die Frage: Spinne ich oder die anderen? Rückzug ist unter diesen Umständen eine nachvollziehbare Reaktion. Aber es trägt zu dem Gefühl der Aussichtslosigkeit bei. Aus alten Mustern und überholten Lösungsstrategien rauszukommen, ist ein Kraftakt. Wir können helfen, die Situation anzunehmen und zu gestalten. Wegcoachen können wir die Demenz nicht.


Das Team von Desideria Care wuppt das Demenz Meet 2023

Angehörige erleben auch, wie andere sich zurückziehen.

Anja: Das hat gestern eine Klientin genauso gesagt. „Unsere Freunde ziehen sich extrem zurück, können mit unserer Situation nicht umgehen.“

Désirée: Sie wollen sich nicht belasten mit dem Drama eines anderen Menschen. Das macht Angst. So könnte es ja eines Tages auch bei mir laufen.

Ihr arbeitet mit dem „systemischen Ansatz“. Was bedeutet das?

Anja: Das kleinste „System“ bin ich. Ein Mensch. Ich kann fragen: Wie ist dein Umfeld? Wie interagierst du mit den Menschen um dich herum? Und dann gibt es auch noch das „innere Team“. Aspekte von dir. Wenn ein Mensch in einer schwierigen Situation ist oder etwas verändern möchte, oder es verändert sich um ihn herum etwas und er muss sich anpassen und das fällt ihm schwer, dann verstehe ich mich als Prozessbegleiterin. „Ressourcen“ zur Lösung einer schwierigen Situation sind oft verschüttet oder schwer zugänglich. Die kann ich versuchen, wieder hochzuholen. Ich arbeite mit Familien, mit Teams, mit Organisationen oder eben mit dem Einzelnen. Ich bin keine „Expertin“ in dem Sinne, dass ich weiß, wie es geht und es den Klienten erzählt. Das würde nicht viel bringen. Ich versuche, durch Fragen und Sichtbarmachen zu unterstützen, sodass die Lösung im Klienten selbst entsteht. Zum Beispiel: „Ich probiere mal was Neues. Ich habe dies oder jenes bisher gemacht, das funktionierte aber nicht. Also sollte ich mal etwas Neues ausprobieren!“

Diese anderen Menschen, die Anteile des „Systems“ müssen dazu nicht im Raum sein, oder?

Genau. Diese ganzen Ansätze kommen aus der Familientherapie. Und früher hat man gemeint, dass alle Familienmitglieder anwesend sein sollten. Davon ist man heute weg, weil man begriffen hat, dass es dafür eine Freiwilligkeit geben muss, niemand kann geschickt werden. Der Veränderungswunsch muss beim Betreffenden selbst da sein. Aber wenn in der Familie einer anfängt, sich zu verändern, dann wird es Auswirkungen auf alle haben. Und wenn ich mit einer Person arbeite, die unterschiedliche Persönlichkeitsanteile, Gedanken und Motive hat, die miteinander im Konflikt sind, kann ich diese durch Fragen in Bewegung bringen und hoffentlich verändern.

Was kann die Quelle einer Veränderung sein?

Wir sind doch von Geburt an mit allem ausgestattet, was wir zum Überleben brauchen. Zwei Füße, zwei Hände, ein Kopf, eine Nase. Unsere fünf Sinne. Wir sind mit Mut ausgestattet. Sonst könnte man nicht laufen lernen, hinfallen und wieder aufstehen. Es gibt grundsätzlich eine Lebensneugier. Wir sind mit Mitgefühl ausgestattet. Dann gibt es den Wunsch unseres Verstandes nach Klarheit. Nach Ordnung im Leben. Diese Qualitäten bringen wir mit, sie sind manchmal nur durch negative Erfahrungen verschüttet. Normen oder Rollen, die wir im Laufe des Lebens übernehmen, verhindern manchmal, dass wir unsere Anlagen nutzen. Manche sagen dann: Ich kann das nicht. Dann fragen wir: Schau mal in dein Leben, wann hast du das das letzte Mal in dir hervorgebracht, dieses Können, diese „Ressource“? Suchen wir doch eine ganz kleine Begebenheit.

Manche kommen mit Grundüberzeugungen wie „Immer erst alle anderen, bevor ich an mich denke.“ Oder: „In meiner Partnerschaft ist der Mann der Starke und ich bin die Schwache.“ Oder: „Das macht man nicht, Hilfe anzunehmen.“ Vielleicht liegt der Ursprung solcher Glaubenssätze in der Familie, in der ich aufgewachsen bin oder durch eigene Erfahrungen. „Das reicht nie. Ich schaffe das nicht.“ So ein Satz kann in einer schwierigen Situation wie eine Blockade wirken. Er blockiert die Fähigkeit, an sich selbst zu glauben und die Situation positiv beeinflussen zu können. Dann überlegen wir gemeinsam, wie man diesen Gedanken verändern könnte. Diese Sätze wurden integriert, weil sie früher nützlich waren und vor etwas beschützt haben. Es könnte eine Selbsterziehungsmaßnahme gewesen sein, als jemand ständig von Mutter oder Vater einen Rüffel bekommen hat. Dann wird der Satz innerlich eine Erinnerungshilfe. Diese Sätze können sich stark verfestigen. Sie sichtbar zu machen, ist schon ein Aha-Erlebnis. Es gibt angelernte Hilflosigkeit wie „Ich kann nicht mehr, rettet mich!“ Vielleicht weiß derjenige nicht, wie er diese Bitte um Hilfe so formulieren kann, dass sie gehört wird.

Was mache ich, wenn ich sehe, jemand braucht Hilfe? In manchen Familien pflegt beispielsweise die Mutter den Vater, ist sichtlich am Ende, und eine Tochter sagt: „Mama, du brauchst Hilfe“.

Anja: Diese Situation haben wir tatsächlich öfter, dass Töchter und Söhne hier anrufen, die sagen, ein Elternteil braucht Hilfe. Und da sagen wir immer: Fangen Sie doch damit an, dass Sie zu uns kommen! Sie können allein kommen oder den Elternteil mitbringen … Machen Sie unseren Kurs, da sehen Sie andere Söhne und Töchter, denen es ähnlich geht. Wenn einer anfängt, hat das Auswirkungen auch auf die anderen.

Manche Angehörige fühlen sich sehr schlecht, weinen und sagen: Ich kann nicht mehr schlafen. Wenn man ihnen aber zusätzliche Hilfe anbietet, sagen sie: So weit bin ich noch nicht.

Anja: Genau. Da bin ich aber geduldig. Es gibt die echten Klienten, die arbeiten wollen, die „Besucher“ werden meistens geschickt, und dann gibt es die, die eigentlich nur dasitzen. Die zwar aus freien Stücken kommen, aber gar nichts verändern wollen. Ich habe auch Klienten, die Jahre kommen und jammern möchten. Dem liegt oft eine Rettungsfantasie zugrunde: Wer kommt denn jetzt und rettet mich? Alle bieten dann immer an, mach das oder jenes … Es gibt oft einen geheimen Gewinn, warum jemand nichts verändern möchte. Und das hält ihn in der Situation. Das bedeutet: „Es geht noch nicht.“

Was bietet ihr zur Unterstützung an?

Anja: Zunächst bieten wir Coaching eins zu eins. Oder auch mit Teilen der Familie. Ein Paar kam beispielsweise zu uns, sie war sehr früh diagnostiziert und sagte: „Ich möchte gerne mit meinem Mann ein oder zweimal hierherkommen, um mit ihm zu reden, wie ich mir das wünsche. Dass wir lernen, mit diesem „ungebetenen Gast“, der Demenzerkrankung umzugehen. Vielleicht können wir mit Ihnen darüber sprechen, weil ich das Gefühl habe, es fällt uns leichter mit einem Dritten als zu Hause am Küchentisch.“

Außerdem bieten wir Angehörigenseminare an. Zehnmal trifft sich die kleine Gruppe in fester Zusammensetzung jeweils zwei Stunden. Mit einem Coach und einem zertifizierten Trainer. Wir behandeln verschiedene Themenaspekte: die Krankheit erkennen und verstehen. Strategien für den Alltag zu entwickeln. Wie gehe ich mit meinem Erkrankten um, ohne ihn zu entmündigen.

Der dritte Themenblock handelt davon, wie ich mich selbst stabilisieren, für mich sorgen und ein Netzwerk aufbauen kann. Es gibt viel Raum, um sich auszutauschen.

Désirée: Wir haben auch offene Angehörigengruppen und da nehmen wir nur Leute, die den Kurs und diesen Gruppenprozess durchlaufen haben. Ich finde, das ist so ein persönliches Thema, da muss man sich gut in einer Gruppe aufgehoben fühlen, um sich öffnen zu können. Durch den Kurs haben alle dasselbe Wissen und ein Verständnis dafür, dass es auch um Selbstfürsorge geht.

Anja: Es gibt jetzt auch die DemenzBuddies, das ist eine online Gruppe für pflegende Angehörige zwischen 16 und 25, im Kontext von früh Betroffenen. Die leben zum Beispiel noch unter einem Dach mit ihren Eltern. Die Kollegin, die das macht, kommt aus der Kinderund Jugendarbeit.

Was ist mit Konflikten zwischen Geschwistern?

Anja: Wenn ein Mensch an Demenz erkrankt, versucht oft die ganze Familie, sich zu kümmern. Und die Leute leben an unterschiedlichen Orten, zum Beispiel Geschwisterpaare. Der eine in Berlin, der andere hier München. Und die erkrankte Mutter da oder dort. Die beiden können z.B. durch unseren online-Kurs jede Woche ein gemeinsames Verständnis erarbeiten. Vielleicht ist in der Gruppe jemand mit seiner Situation alleine und sagt zu ihnen: Es ist so toll, dass ihr einander habt. Das ist ein Gänsehautmoment, wenn dann ein Geschwister zum anderen sagt: Ja, darauf bin ich auch stolz.

Désirée : Eine ist vielleicht vor Ort und kümmert sich immer. Und fühlt sich ausgebeutet. Aber die andere macht sich total Sorgen, weil sie nicht da sein kann. Es ist gut, wenn das mal ausgesprochen ist. Das schafft eine neue Basis.

In einer Pflegesituation nimmt man sich wahrscheinlich immer weniger Zeit zu reflektieren. Man ist in einer Art Hamsterrad. Handlungen spielen so eine riesige Rolle: das Bett neu beziehen, aufs

Klo gehen… Ihr schafft einen Raum, in dem man sich selbst wieder hören kann.

Désirée : Aber diesen Raum muss man sich auch gönnen. Sich sagen, diesen Raum investiere ich jetzt für mich.

Anja: Das darf man auch ruhig wertschätzen: Ihr habt das geschafft, hierher zu kommen. Das erfordert Mut! Und irgendwas wollt ihr voneinander, sonst würdet ihr hier nicht sitzen.

Was heißt denn „Desideria“?

Désirée: Das kommt von meinem Vornamen. Der ist lateinisch: die Erwünschte, die Ersehnte. Sehnsucht. Es ist der Wunsch zu pflegen. Ich saß mit meiner Ausbilderin Silvia Hemmet in Schweden. Ich war da, um die Prüfung abzulegen. Und als wir abends zusammensaßen, bat ich sie um Rat, wie ich meinen Verein nennen könnte. Sie antwortete: Du hast doch so einen schönen Vornamen!

Vor fünf Jahren haben wir gegründet. Ich hatte ehrenamtlich in der Malteser Tagesstätte gearbeitet und in der Zeit meine Ausbildung gemacht. Ich kam nicht im Traum darauf, mich selbständig zu machen. Aber die Malteser wollten nicht so wie ich und eine Freundin meinte: Mach dich doch selbständig mit deiner coolen Idee. Dann habe ich zwei Nächte drüber geschlafen, ein paar Freunde zusammengetrommelt als Gründungmitglieder und innerhalb von zwei Wochen war der Verein gegründet. Ich hatte keine Räume und nichts. Aber eine andere Freundin meinte: Sprich mal mit Anja, die arbeitet an derselben Sache. Also haben wir uns zusammengesetzt und danach sagte Anja, so cool, ich schmeiße meinen eigenen Flyer weg, der gerade fertig ist. Das beobachte ich immer wieder in meinem Leben. Wenn ich an einem Scheideweg stehe und nicht mehr weiterweiß, kommen Menschen daher und sagen: Ich habe eine Idee oder mach doch so oder telefonier mal mit dem … Und irgendwie geht es dann weiter. Alles hat sich organisch weiterentwickelt. Als wir gemerkt haben, wir schaffen das nicht mehr alleine, haben wir Isabelle gefunden.

Anja: Und die ist heute ein Dreh- und Angelpunkt, kann prima organisieren. Sie ist die Dritte im Bunde. Jede hat ihre Stärken und Talente, da ergänzen wir uns. Aber da darf uns auch niemand wegbrechen. Wir müssen uns gut pflegen und wertschätzen, auch in unserer Unterschiedlichkeit.

Désirée: Wir haben uns versprochen, wenn etwas gärt, müssen wir das offen ansprechen. Sonst wird ́s schwierig.

Anja: Es ist immer eine Lern- und Wachstumssituation, wenn etwas pikst. Und der Netzwerkgedanke ist uns sehr wichtig. Wir haben kein Interesse, eine „weitere Niederlassung in Frankfurt“ aufzumachen. Wir wollen weiterwachsen mit Personen, die für sich stehen, aber im Geiste mit uns verbunden sind. Und die Idee gut finden und nach außen weitertragen. So Institutionen wie ihr! Zusammenwirken. In einer gemeinsamen Haltung, die stimmt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Desideria Care e.V. Lessingstrasse 5 80336 München

Telefon: +49 89 59 99 74 33 E-Mail: info@desideriacare.de