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Interview mit Gerhard Sturm (Februar 2021)

Petra Dahlemann: Wir hatten ja im letzten Momentum ein Interview mit dir, da hieß es, noch würdest du keine erhöhte Anzahl an Anrufen im Krisendienst bemerken. Aber du hast sie erwartet. Das war im Juli letzten Jahres. Wie hat es sich entwickelt?

Gerhard Sturm: Eigentlich genauso, wie wir befürchtet haben. Die Welle kam und sie war massiv. Bis vierzehn Tage vor Weihnachten nahm das noch mal Fahrt auf. Die Anruffrequenz multiplizierte sich. Bis zum ersten Lockdown haben sich die Leute relativ gut arrangiert. Und als wir dann in den zweiten Lockdown gestolpert sind, da ist, glaube ich, ganz viel Hoffnung gestorben. Was sich komplett auf den Kopf gestellt hat, ist die Art der Anrufe. Früher war so ein typischer Fall: „Meine demenzkranke Frau kommt nicht mehr aus der Badewanne und ich schaffe es nicht, sie herauszuheben.“ Es gehörte zu meinem Alltagsgeschäft, sich für solch knifflige Probleme eine Strategie auszudenken. Da blühe ich auf. Hier hilft vielleicht Erfahrungswissen, vor allem aber unser Verständnis von Demenz. Solche Anrufe gibt es nicht mehr. Ich hatte früher ganz viele Anrufe: Mein Angehöriger ist die Treppe hinuntergefallen. Oder beim Aufstehen gestürzt. Stürze waren Alltag. Jetzt nicht mehr. Früher hatten Gespräche beratenden Charakter. Jetzt ist das Krisentelefon vor allem ein Sorgentelefon. Und diese Sorgen sind viel tiefgreifender, als ich das gewohnt war.

Kannst du Beispiele nennen?

Die Leute haben existentielle Sorgen. Die sagen: „Ich kann nicht mehr.“ Absolute Perspektivlosigkeit.

In finanzieller Hinsicht?

Nein, nein, in psychischer Belastung. Natürlich hatte ich auch Anrufe von Leuten, die körperlich an der Belastungsgrenze waren. Die ausgepowert waren.

Weil Demente die Nacht zum Tag machen. Aber diese Perspektivlosigkeit ist neu. Da sind Sachen dabei wie „Wenn das so weiter geht, springe ich aus dem Fenster.“ So etwas gibt es.

Wo sind die Erholungsinseln geblieben, die Kulturhäppchen, Freundschaften, die Caféhausbesuche? Das ist ein Dauerzustand geworden, da fließt nichts Positives in die sowieso so fragile Pflegesituation.

Meine Krisendienstmitglieder sind typischerweise fortgeschrittenen Alters und immer sehr bemüht, dass es auch dem Gegenüber gut geht – sonst würden sie auch die Pflege nicht allein stemmen. Obwohl das Krisentelefon ausdrücklich 24 Stunden besetzt ist, versuchen Menschen dieser Generation oft, sich an Geschäftszeiten zu halten. Aber etwa vierzehn Tage vor Weihnachten war es damit vorbei. Die Not war so groß und die Verzweiflung. So was wie ein Vorgespräch oder sich ein Herantasten, gibt es nicht mehr. Wenn das Telefon klingelt, ist man sofort mit dem Kernproblem konfrontiert.

Und viele neue Anrufe?

Ja, genau. Etwa fünfmal mehr als früher. Ich weiß oft gar nicht, wie die Leute zu uns gefunden haben. Sie nennen Empfehlungen von Leuten, die ich gar nicht zuordnen kann. Leute, die keinen Kontakt zu uns haben. Das ist auch neu. Früher haben die Menschen einen Weg in unser System gefunden, haben daran partizipiert, sind damit warm geworden, das hat Vertrauen aufgebaut und dann kamen die Anrufe. Jetzt telefoniere ich mit Leuten, die ich nicht kenne. Und die Anrufe sind absolut überregional, die kommen aus dem ganzen Bundesgebiet. Es freut mich natürlich, dass wir so bekannt sind.

Und was sagst du derartig verzweifelten Leuten? Du hast ja gar keine Einschätzung ihrer Situation.

Das stimmt, aber das Krisentelefon ist ja eigentlich wie eine Verbeugung vor der

Leistung des pflegenden Angehörigen. Er kann ja nie aussteigen aus seiner Verpflichtung. Ich bin ja jetzt selbst in der Lage, dass in meinem Haushalt ein demenzkranker Mensch lebte. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn du dreimal in der Nacht raus musst und eigentlich nur schlafen möchtest. Du bist gefordert. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn sich dein Tag-Nachtrhythmus umkehrt. Und das sage ich auch den Leuten. Ich kenne das Tal der Tränen. Vielleicht ist das den Leuten hilfreich. Ich weiß, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt. Wenn man sich um Unterstützung bemüht, kann man es überleben. Mir ist aber klar, dass durch Corona alles viel schwieriger geworden ist.

Sagen das Leute auch, dass ihnen durch Corona Unterstützungsangebote weggebrochen sind?

Ja, natürlich. Absolut. „Ich bin ja früher wenigstens noch einmal pro Woche zur Massage gegangen. Eine halbe Stunde Auszeit und da war eine Demenzhelferin da. Oder die Nachbarin. Aber die traut sich ja nimmer.“ „Wir haben uns früher mit zwei anderen betroffenen Familien zweimal pro Woche zum Kaffee verabredet. Wir konnten ja alle nicht lange. Aber wenigstens eine Stunde. – Weg.“ Niemand kommt mehr ins Haus. Es gibt kaum Demenzhelfer mehr, es gibt kaum Angebote. Das lastet schwer. Leider waren viele Tagespflegen sehr lange geschlossen und öffnen wieder mit reduzierter Platzzahl. Und selbst wenn es irgendwo ein Angebot gibt, herrscht in vielen Familien Angst, dass man etwas nach Hause bringt. Und die Auflagen in den Gruppen sind auch schwierig. Die wenigen Angebote, die es gibt, brauchen ein wasserdichtes Hygienekonzept und es ist für die Mitarbeitenden oft nicht leicht, das umzusetzen.

Bei Dementen geht es um Kontakt. Auch um Körperkontakt. Das ist schwierig in der Pandemie. Ich habe den Eindruck, dass die Demenzkranken durch die fehlenden Angebote auch weniger ausgelastet sind. Weniger aufgefangen. Umsorgt. Ich kenne das ASZ in Obermenzing, da sind alle total bemüht. Aber es ist einfach anders. An einer Kaffeetafel mit fünf Demenzkranken kannst du so schnell eine Kaffeehaus Atmosphäre zaubern, dass du den schönsten Nachmittag erlebst. Es gibt aber keine Kaffeerunden mehr.

Dann bleiben nur noch Kontaktwege, die kognitiv sind. Ich kann Gedächtnispielchen machen und versuchen, in einen Dialog zu kommen. Aber viele demente Menschen haben ihre Sprache aufgegeben. Da funktioniert Kontakt über Berührung. Über die Emotion. Und das schaffe ich doch am besten, wenn ich offenherzig und ohne Berührungsängste den Menschen begegne. Das geht halt nicht im Moment. Und selbst wenn sich eine Einrichtung sich darüber hinwegsetzen würde, dann würde ich die Leute dem Infektionsrisiko aussetzen (Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde vor der Impfkampagne geführt). Und das wäre ganz schlecht für die Familien, in die die Demenzkranken zurückgehen würden. Wo doch auch viele Partner so

hochaltrig sind. Meistens geht es ja um pflegende Partner, nicht Kinder. Davon sind weit über 80% in einer Risikogruppe.

Ich stelle es mir sehr schwierig vor, wenn du am Telefon nichts anderes sagen kannst als: Ich höre Ihnen zu, ich verstehe Sie, es wird vorbeigehen. Früher hast du Leuten tatkräftig Lösungen aufgezeigt…

Genau. Früher hörte ich: „Ich habe jeden Tag Stress im Bad!“ Ich liebe diesen Satz, weil ich dann immer schon den goldenen Schlüssel in der Hand halte. Ich weiß, was ich in so einer Situation sage und wie die Schuppen gleich von den Augen fallen. Und jetzt habe ich eine Situation, die auch für mich sehr unbefriedigend ist.

Wenn Sie sich für den Krisendienst interessieren:

Der Demenz-Krisendienst von wohlBEDACHT e.V. bietet Ihnen Hilfe bei Notfällen rund um die Demenz. Für € 17,50 Monatsbeitrag erhalten demenzbetroffene Familien:

Vorbeugend:
• ein Aufnahmegespräch, in dem

Kontaktdaten, Situation und Informationen für den Notfall abgefragt und dokumentiert werden

• unsere Rund-um-die-Uhr-Notfallnummer

• eintägige kostenfreie Fortbildung aus

dem wohlBEDACHT-Fortbildungsprogramm

Im Notfall:
• ein Krisengespräch jederzeit über das Notfall-Handy, in dem mögliche Hilfeleistungen mit Ihnen erörtert und vereinbart werden.

• Rat und telefonische Organisation von Hilfe innerhalb von 24 Stunden (z.B. Gespräche mit dem versorgenden Arzt, Organisation eines Hausbesuchs, Organisation einer Notfall-Unterbringung in der Tagesbetreuung RosenGarten oder der Nachtbetreuung von wohlBEDACHT e.V., Organisation einer Krankenhausbegleitung etc.).

• Die Durchführung der vereinbarten Hilfemaßnahmen muss von Ihnen extra bezahlt werden (s.u.).

• bevorzugte Aufnahme in alle Hilfsangebote für Demenzkranke von wohlBEDACHT e.V. und der Tagesbetreuung RosenGarten.

Für Leistungen, die Sie im Notfall buchen, zahlen Sie die üblichen Entgelte. Der Demenz-Krisendienst ist eine Einrichtung von wohlBEDACHT e.V. verwaltet über die Tagesbetreuung RosenGarten.

Anmeldung:
089-81 80 209-10 (RosenGarten, AB) hilfe@tagesbetreuung.info oder über wohlbedacht.de/kontakt

Stichwort: Demenz-Krisendienst